Proteinzufuhr
Der Zusammenhang zwischen Proteinen und Langlebigkeit ist Komplex. Was ist die optimale Proteinzufuhr für optimierte Langlebigkeit?
Die Debatte um die optimale Proteinzufuhr für ein langes und gesundes Leben ist vielschichtig und von großem wissenschaftlichem Interesse. Zwei prominente Ansätze stehen sich gegenüber: die proteinreduzierte Ernährung, vertreten durch David Sinclair, und die proteinreiche Ernährung, befürwortet von Peter Attia. Lassen Sie uns die wissenschaftlichen Erkenntnisse hinter beiden Theorien beleuchten und dabei besonders auf die Unterschiede zwischen jüngeren und älteren Menschen eingehen.
David Sinclair: Pflanzenbasierte Ernährung und niedrige Proteinzufuhr
Dr. David Sinclair, Genetik-Professor an der Harvard Medical School, argumentiert für eine pflanzenbasierte Ernährung mit moderater Proteinzufuhr, insbesondere für jüngere Menschen.
- Hemmung der mTOR-Aktivität: Eine niedrige Proteinzufuhr reduziert die Aktivität des mTOR-Signalwegs (mammalian Target of Rapamycin), insbesondere des mTORC1-Komplexes. Eine reduzierte mTOR-Aktivität wird mit einer Verlangsamung der Zellalterung in Verbindung gebracht.
- Förderung der Autophagie: Eine proteinärmere Ernährung stimuliert die Autophagie, einen zellulären Reinigungsprozess. Dieser Mechanismus entfernt beschädigte Zellbestandteile und trägt zur Zellverjüngung bei.
- Beeinflussung der IGF-1-Spiegel: Eine niedrigere Proteinaufnahme kann zu reduzierten IGF-1-Spiegeln (Insulin-like Growth Factor 1) führen. Einige Studien deuten darauf hin, dass niedrigere IGF-1-Spiegel mit einer erhöhten Lebensdauer und einem reduzierten Krebsrisiko verbunden sein könnten, insbesondere bei jüngeren Menschen.
Peter Attia: Hohe Proteinzufuhr für gesundes Altern
Dr. Peter Attia vertritt die Ansicht, dass eine höhere Proteinzufuhr, insbesondere im Alter, vorteilhaft für die Gesundheit und Langlebigkeit sein kann.
- Erhaltung der Muskelmasse: Eine ausreichende Proteinzufuhr ist entscheidend zur Vorbeugung von Sarkopenie, dem altersbedingten Muskelabbau. Muskelerhalt trägt zur Stoffwechselgesundheit und Mobilität bei.
- Altersabhängige Effekte: Bei Menschen über 65 Jahren war eine höhere Proteinaufnahme mit einem geringeren Sterberisiko verbunden. Dies könnte auf die verbesserte Immunfunktion und Wundheilung durch ausreichende Proteinversorgung zurückzuführen sein.
- Ausgleich der anabolischen Resistenz: Mit zunehmendem Alter nimmt die Fähigkeit des Körpers ab, Proteine effizient zu verwerten. Eine höhere Proteinzufuhr kann diese altersbedingte anabolische Resistenz ausgleichen.
- Differenzierung zwischen chronischer und akuter mTOR-Aktivierung: Attia argumentiert, dass die akute mTOR-Aktivierung durch Proteinaufnahme nicht gleichzusetzen ist mit einer chronischen mTOR-Aktivierung. Während chronische mTOR-Aktivierung möglicherweise negative Auswirkungen hat, könnte die akute Aktivierung durch Proteinmahlzeiten sogar vorteilhaft sein.
Die Debatte um die optimale Proteinzufuhr für Langlebigkeit zeigt, dass sowohl eine proteinreduzierte als auch eine proteinreiche Ernährung je nach Alter und Gesundheitszustand unterschiedliche Vorteile bieten können.
Neue Erkenntnisse zur Proteinzufuhr bei jüngeren Menschen
Neuere Studien deuten darauf hin, dass jüngere Erwachsene tatsächlich von einer moderateren Proteinzufuhr profitieren könnten:
- Die NHANES III-Analyse zeigte, dass bei Erwachsenen im Alter von 50-65 Jahren eine hohe Proteinaufnahme mit einem erhöhten Risiko für Krebs und Diabetes verbunden war. Allerdings kehrte sich dieser Effekt bei Menschen über 65 Jahren um.
- Studien haben gezeigt, dass höhere IGF-1-Spiegel, die mit erhöhter Proteinaufnahme einhergehen, bei jüngeren Erwachsenen mit einem erhöhten Krebsrisiko verbunden sein können.
- Eine moderate Proteinrestriktion könnte bei jüngeren Menschen die Autophagie stärker fördern, was potenziell positive Auswirkungen auf die Zellgesundheit und Langlebigkeit haben könnte.
Synthese und differenzierte Betrachtung
Die Debatte um die optimale Proteinzufuhr für gesundes Altern ist komplex und erfordert eine differenzierte Betrachtung:
- Altersabhängige Empfehlungen: Die Daten deuten darauf hin, dass der Proteinbedarf mit dem Alter steigt. Während jüngere Erwachsene möglicherweise von einer moderaten Proteinzufuhr profitieren, scheinen ältere Menschen einen höheren Bedarf zu haben.
- Qualität der Proteinquellen: Die Art der Proteinquellen spielt eine wichtige Rolle. Pflanzliche Proteine zeigen oft günstigere Effekte auf die Gesundheit als tierische Proteine.
- Individuelle Faktoren: Der optimale Proteinbedarf kann je nach Gesundheitszustand, körperlicher Aktivität und genetischen Faktoren variieren.
- Balancierte Aktivierung von mTOR: Eine ausgewogene Aktivierung von mTOR durch Proteinaufnahme könnte wichtig sein, um sowohl die Muskelproteinsynthese zu fördern als auch die Autophagie nicht übermäßig zu hemmen.
Empfehlungen für die Proteinaufnahme
- Jüngere Erwachsene (18-40 Jahre): Neuere Forschungen deuten darauf hin, dass eine moderate Proteinzufuhr für jüngere Erwachsene ausreichend sein könnte. Die Deutsche Gesellschaft für Ernährung (DGE) empfiehlt 0,8 g Protein pro kg Körpergewicht pro Tag für gesunde Erwachsene. Für aktive junge Erwachsene oder Sportler können höhere Mengen von 1,2-1,6 g/kg angemessen sein.
- Mittleres Alter (41-65 Jahre): Mit zunehmendem Alter steigt der Proteinbedarf leicht an. Eine Proteinzufuhr von 1,0-1,2 g/kg Körpergewicht könnte optimal sein.
- Senioren (über 65 Jahre): Ältere Menschen profitieren von einer höheren Proteinzufuhr. Empfehlungen reichen von 1,2-2,0 g/kg Körpergewicht, abhängig von Gesundheitszustand und Aktivitätsniveau.
Fazit
Die aktuelle Forschungslage legt nahe, dass die optimale Proteinzufuhr altersabhängig ist. Jüngere Erwachsene könnten von einer moderaten Proteinzufuhr profitieren, während ältere Menschen einen höheren Bedarf haben. Es ist wichtig, die Proteinzufuhr individuell anzupassen und dabei Faktoren wie Alter, Gesundheitszustand und Lebensstil zu berücksichtigen.
Das Konzept des "Burning the candle at both ends" (Die Kerze an beiden Enden anzünden) ist hier relevant. Es beschreibt, wie bestimmte Interventionen kurzfristig vorteilhaft sein können, langfristig jedoch möglicherweise negative Auswirkungen haben. Im Kontext der Proteinaufnahme könnte dies bedeuten, dass eine höhere Proteinzufuhr kurzfristig den Muskelaufbau und die körperliche Leistungsfähigkeit fördert, während eine moderate Einschränkung langfristig möglicherweise die Lebensspanne verlängert.
Ein möglicher Ansatz könnte sein, die Proteinaufnahme zyklisch zu gestalten - Phasen höherer Proteinzufuhr für Muskelaufbau und -erhalt mit Phasen moderater Proteinrestriktion zu kombinieren. Dies könnte potenziell die Vorteile beider Ansätze vereinen.
Letztendlich sind weitere Langzeitstudien am Menschen erforderlich, um die komplexen Zusammenhänge zwischen Proteinzufuhr, mTOR-Aktivierung, Autophagie und Langlebigkeit vollständig zu verstehen. Bis dahin bleibt eine ausgewogene, nährstoffreiche Ernährung in Kombination mit regelmäßiger körperlicher Aktivität der beste Ansatz für gesundes Altern.
Studien zum Nachlesen:
- Sinclair, D. A., & LaPlante, M. D. (2019). Lifespan: Why We Age—and Why We Don't Have To. Atria Books.
-
Saxton, R. A., & Sabatini, D. M. (2017). mTOR Signaling in Growth, Metabolism, and Disease. Cell, 168(6), 960-976.
https://www.cell.com/cell/fulltext/S0092-8674(17)30168-9 -
Levine, M. E., et al. (2014). Low Protein Intake Is Associated with a Major Reduction in IGF-1, Cancer, and Overall Mortality in the 65 and Younger but Not Older Population. Cell Metabolism, 19(3), 407-417.
https://pubmed.ncbi.nlm.nih.gov/24606898/ -
Bauer, J., et al. (2013). Evidence-Based Recommendations for Optimal Dietary Protein Intake in Older People: A Position Paper from the PROT-AGE Study Group. Journal of the American Medical Directors Association, 14(8), 542-559.
https://www.sciencedirect.com/science/article/pii/S1525861013003265 -
Traylor, D. A., Gorissen, S. H., & Phillips, S. M. (2018). Perspective: Protein Requirements and Optimal Intakes in Aging: Are We Ready to Recommend More Than the Recommended Daily Allowance? Advances in Nutrition, 9(3), 171-182.
https://www.ncbi.nlm.nih.gov/pmc/articles/PMC5952928/ -
Deutz, N. E., et al. (2014). Protein intake and exercise for optimal muscle function with aging: Recommendations from the ESPEN Expert Group. Clinical Nutrition, 33(6), 929-936.
https://pubmed.ncbi.nlm.nih.gov/24814383/ - Peter Attia's Blog on protein: https://peterattiamd.com/category/nutritional-biochemistry/protein/
-
David Sinclair's video on protein consumption and longevity:
https://www.youtube.com/watch?v=_a7sgv33vlg